Remo H. Largo (1943 – 2020) – vom Kind her denken

 

Der Tod von Remo H. Largo hat uns alle überrascht, erschüttert und sehr traurig gemacht. Das Medienecho war riesig und zeigte auf eindrückliche Weise die Bedeutung seines Werks. Sein Tod ist für uns eine Zäsur, die uns über sein Schaffen und sein Vermächtnis nachdenken lässt: Wird seine Stimme für die Kinder verstummen?

 

Nein, das wird sie nicht, denn seine Bücherwerden seine Worte weitertragen. Wir Kinderärztinnen und Kinderärzte haben seine Haltung verinnerlicht, setzen sie in unserem Alltag mit Kindern und ihren Familien um und werden seine Ideen weiterentwickeln.

 

Als Lehrer, Mentor und Freund lehrte Remo Largo uns jeden Tag, wie vielfältig das Menschsein ist, und was wir tun können, damit jeder von uns seine eigene Individualität leben kann.Was zeichnete den Menschen Remo Largo aus?

 

Er war neugierig und wissensdurstig

 

Zwischen 1976 und 1978 arbeitete er an der Child Development Unit der University of California in Los Angeles (UCLA) bei Arthur Parmelee. Der bekannte Entwicklungspädiater war ein Pionier der Hirnforschung im Kindesalter. Remo Largo war fasziniert von den damals neuen technischen Möglichkeiten, das kindliche Gehirn sichtbar zu machen. Zwar hatte er sich bereits vorher in Zürich viel Wissen über die kindliche Entwicklung angeeignet, aber Hirnstrommessungen sollten ihm ein gänzlich neues Fenster zum Kind eröffnen. Es kam jedoch alles ganz anders: Methodische und finanzielle Probleme führten nach wenigen Monaten zum Abbruch des Projekts. Stattdessen widmete er sich demjenigen Forschungszweig, den er später in Zürich fortsetzen sollte und der Grundlage seines umfangreichen Werks wurde: der Beobachtung der kindlichen Entwicklung.

 

Er war offen und interessiert

 

Er war ein Mensch, der gut zuhören konnte, Ideen und Gedanken aufnahm, sie verarbeitete und weiterentwickelte. So besuchte er die großen amerikanischen Entwicklungszentren und beschäftigte sich vertieft mit entwicklungspsychologischen Themen. An der UCLA widmete er sich fortan einem Projekt über die Spiel und Sprachentwicklung. So untersuchte er zahlreiche Kinder und zeichnete akribisch ihr Spielverhalten in den ersten Lebensjahren nach. Er erkannte, dass Kinder von sich aus neugierig sind und sich im Spiel entwickeln. In dieser Zeit las er intensiv die Schriften des berühmten Schweizer Entwicklungsforschers und Biologen Jean Piaget, die ihn in der Folge sehr prägen sollten. Remo Largo war fasziniert vom Gedanken, dass das Kind seine Entwicklung durch die eigenen Handlungen selbst steuert. Seine Überzeugung wuchs, dass wir Erwachsenen die Entwicklung des Kindes nicht beschleunigen können, sondern einzig dafür sorgen müssen, dass sich das Kind wohl und mit all seinen Eigenschaften und Eigenheiten vom Umfeld akzeptiert fühlt.

 

Er war liebevoll und warmherzig

 

Diese Eigenschaften erachtete er für Bezugspersonen im Umgang mit dem Kind als zentral. Oft benutzte er das Wort „Geborgenheit“. Er war überzeugt, dass sich ein Kind nur dann geborgen fühlt, wenn seine Bezugspersonen verfügbar, verlässlich, vertraut und liebevoll sind. Aber auch seinen Freunden, Mitarbeitenden und Eltern seiner Patientinnen und Patienten gab er Geborgenheit. Immer, wenn man ihn traf, fragte er, wie es einem, den Kindern oder anderen Familienmitgliedern geht. Die Frage war nie eine Floskel, sondern das Wohlergehen seines Gegenübers lag ihm wirklich am Herzen. Er hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte anderer und hörte achtsam zu.

 

Er war umsichtig und visionär

 

Mit neuen Erkenntnissen aus den USA im Gepäck übernahm er 1978 von seinem Mentor Andrea Prader die Verantwortung für die Zürcher Longitudinalstudien, die 1954 initiiert wurden. Er startete eine zweite und sogar eine dritte Studie, baute diese aus und ließ sein umfangreiches Wissen einfließen, das er in Amerika erworben hatte. So untersuchte er z.B. die Entwicklung des Spiels der Kinder, deren Denken und die Sprache, den Schlaf, die Entwicklung der Sauberkeit und viele Aspekte des sozialen Verhaltens. Dieser große Wissensfundus war die Grundlage für seine Bücher und das „Fit-Konzept“. Dabei beobachtete er die Kinder, filmte und fotografierte sie. Er hatte ein Auge für besondere Situationen und Momente. Es war großartig, zusammen mit ihm die kindlichen Verhaltensweisen im Video genau zu analysieren und auf diese Weise zu verstehen. Das Video war Remo Largos Stethoskop.

 

Er war humorvoll und geduldig

 

Innert Minuten war er mit Kindern in ein Spiel verwickelt, lachte und zog die Kinder in seinen Bann. Auch Studierende und Assistierende waren fasziniert von seiner Art, auf Kinder zuzugehen. Er stach unter den Dozierenden heraus, weil es ihm intuitiv gelang, dem Kind auf Augenhöhe zu begegnen und sich auf seinen individuellen Entwicklungsstand einzustellen. Auch hörte er sich die Geschichten der Familien geduldig an und versuchte, das Umfeld des Kindes zu verstehen. Dabei betrachtete er die Welt immer aus Sicht des Kindes, versuchte, sich in das Kind hineinzuversetzen und „vom Kind her zu denken“, wie er oft sagte. Er fokussierte sich auf die Stärken eines Kindes, akzeptierte die Schwächen oder übersah diese großzügig – nicht nur bei Kindern, sondern auch bei seinen Mitarbeitenden und Freunden. Es gelang ihm, jedem seinen Platz zu geben und ein Team zu formen, das unterschiedliche Menschen vereint.

 

Er war beharrlich und provokativ

 

Für viele war seine tiefe Überzeugung, dass die Anforderungen der Gesellschaft an die Eigenschaften des Kindes angepasst werden müssen, pure Provokation. Er eckte mit dieser Forderung besonders in der Bildungsszene an, weil die Schule bis zu einem gewissen Grad von Gleichmacherei geprägt ist. Diese war für Remo Largo, den überzeugten Hüter der kindlichen Vielfalt, ein Graus. Dabei musste er viel Ablehnung ertragen, v. a. vonseiten der Pädagogik. „Schuster bleib bei deinen Leisten“ oder „Als Kinderarzt hat Largo keine Ahnung, was in den Schulzimmern läuft“, waren häufige Kritiken, wenn er wiederholt provokante Thesen einbrachte. Eine große Genugtuung erfuhr er 2006, als er den Bildungspreis der Pädagogischen Hochschule Zürich erhielt und in der Laudatio hören durfte, dass er „als Kinderarzt eigentlich ein geborener Pädagoge ist“.

 

Er war kommunikativ und konnte begeistern

 

Wie kein anderer hat er es verstanden, das komplexe Wissen über die Entwicklung von der Geburt bis in das Erwachsenenalter in einer klaren und verständlichen Sprache zu vermitteln; seine Bücher sind ohne Zweifel der Beweis dafür. Wir haben diese Begabung im gemeinsamen Alltag auch gespürt. Wenn man ihm beispielsweise wissenschaftliche Daten präsentierte, dann fragte er jeweils am Schluss: „Und was ist deine Botschaft?“ Er machte keine Forschung im Elfenbeinturm, sondern dachte stets daran, welche Bedeutung die wissenschaftlichen Befunde für den Umgang mit den Kindern und Familien haben könnten. Mit diesem Transfer von Erkenntnissen der Forschung in die Gesellschaft war er seiner Zeit weit voraus, denn erst in den letzten Jahren wird zunehmend ein öffentlicher Dialog über die Wissenschaft gefordert und gepflegt.

 

Niemand war in den letzten 30 Jahren im deutschsprachigen Raum besser in der Lage, den umfangreichen Wissensfundus über die kindliche Entwicklung in unserer Gesellschaft so tief zu verankern wie Remo Largo. Dabei hat er das Verständnis für die kindliche Entwicklung und deren Vielfalt nachhaltig erweitert und uns allen vor Augen geführt, dass wir uns an das Kind anpassen müssen und nicht das Kind sich an uns. Diese kindorientierte Haltung ist das große Vermächtnis, das Remo Largo uns allen hinterlassen hat. Seine Stimme ist am 11. November 2020 verstummt, aber sein Menschenbild wird in uns weiterleben.

 

Prof. Dr. med. Oskar Jenni & Prof. Dr. med. Bea Latal

Abteilung Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Universität Zürich

Das passende Leben

Jeder wünscht sich ein erfülltes Leben, das rundum passt. Doch so simpel es scheint, so schwer ist es, im Einklang mit sich und anderen zu leben. Meist gilt es, fremdbestimmt Erwartungen zu erfüllen. Doch es ist möglich.

 

Welche besondere Rolle die menschliche Individualität dabei spielt und was sie ausmacht, hat der Entwicklungsforscher Remo H. Largo jahrzehntelang erforscht. In seinen seinen einzigartigen Langzeitstudien begleitete er Generationen von Kindern und Erwachsenen. Nun zieht er die Summe seiner Erkenntnisse, die er im Fit-Prinzip zusammenfasst. Eine ganzheitliche Sichtweise, die die Vielfalt unter den Menschen und die Einzigartigkeit jedes Einzelnen nicht nur als Fundament der Evolution, sondern als Grundlage unserer Existenz versteht. Er beschreibt eindrücklich, welche Grundbedürfnisse, wie z.B. Geborgenheit und Selbstentfaltung, welche Kompetenzen, wie z.B. Empathie und Kommunikationsvermögen, und welche Vorstellungen uns formen.

 

Eine Evolutionsgeschichte der Individualität und ein optimistisches, lebenspraktisches Buch, das nicht nur jeden Einzelnen von uns entlastet, sondern auch neue gesellschaftliche Perspektiven eröffnet.

 

Erscheinungsjahr: 2017

Verlag: S. Fischer

Mit Remo Largo, Autor von «Das passende Leben»

Interview Marius Leutenegger

Fotos Erwin auf der Maur

Magazin Lesen

Ausgabe NR. 2/2017

Verlag Orell Füssli

Der Kinderarzt und Bestsellerautor Remo Largo hat erstmals ein Buch über Erwachsene geschrieben. Er stellt fest: Viele leben nicht das Leben, das zu ihnen passt – und fürchten doch die Veränderung.

Interview Tobias Schmitz

Fotos Daniel Ammann

Magazin Stern

Ausgabe 27.7.2017

Faszination Entwicklung

«Acht Milliarden Menschen leben auf der Welt und jeder dieser Menschen ist ein Unikat», sagt Largo am Anfang des Films und entwickelt aus diesem Gesetz der Vielfalt seine Erkenntnisse über das Wesen des Menschen.

Dabei schaut der Film dem Bestsellerautor beim Schreiben über die Schulter, geht mit Largo ins Universitätskinderspital zur Untersuchung der kleinen Mara, findet mit ihm das Originalmaterial seiner besten Forschungsfilme, begleitet ihn in die Schule von Gian und bis nach Hamburg, wo er mit dem Politikwissenschaftler Claus Legge die Thesen seines neuen Buches diskutiert.

 

Film: Monika Czernin und Aldo Gugolz

Erscheinungsjahr: 2015

Produktion: Hesse Film / SRF / MDR

SRF Kultur, Sternstunde Philosophie (21.5.2017)

Welches Leben passt zu mir?

SRF Kultur (19.5.2017)

Der Weg zum massgeschneiderten Dasein.